Volksfeste sind eigentlich gar nicht mein Ding, erinnern sie mich doch meist an die regionalen Schützentreffen in der unteren Sackeifel – nur mit dem Unterschied, dass die grünweissgestreiften Brüder zwar ihre Uniformen zuhause lassen, dafür aber ihre gesamte Sippschaft mitbringen. Während Oma am Karussell geduldig wartet, bis die Blagen zehn Chips lang im Kreis gefahren sind, steuert Papa schon schweissdurchtränkt die nächste Bölkbude an. Und Mutter bugsiert fünf Bratwürste durch die Menschenmenge und sucht die ganze Bagage. Vorsicht – heiss und fettig. Und laut und schrill. Und überhaupt. Wehe, wenn sie losgelassen...

Einmal im Jahr breche ich mein Gelübde. Genaugenommen in der letzten Juliwoche, wenn in der Stadt die Annakirmes stattfindet, werde ich zappelig. Eine ganze Woche lang liegt Düren im Rummelfieber und für so manchen Einheimischen gehören diese hohen Feiertage höher gefeiert als Weihnachten und Ostern zusammen. Hier trifft man sich. Zumindest, wenn man dazugehört oder dazugehören möchte. Und zwischen Geisterbahn und Backfischbude trifft man immer auf den ein oder anderen, den man sonst fast das ganze Jahr nicht zu Gesicht bekommt. Die ersten sichtet man meist schon am Bierbüdchen wenige Schritte hinter dem Haupteingang und manche von ihnen sieht man an der gleichen Stelle ein paar Stunden später wieder.

Der Dürener Aborigine beginnt seine Tour für gewöhnlich am Bitburger (das ist das besagte Büdchen gleich am Haupteingang), geht dann über Warsteiner und Köstritzer bis zum Paulaner, um dann irgendwann am Bitburger von vorhin zu enden. Und dazwischen noch fünf Mühlenkölsch vom Fass, fünfzig Zentimeter Thüringer Rostbratwurst vom Gasgrill und drei Reibekuchen mit Apfelmus. Sozusagen eine rustikale Schlemmerreise durch die grossdeutschen Lande zusammengepfercht in knapp fünf jubeltrubelheiteren Stunden.

Dabei kann die Annakirmes auf eine lange Tradition zurückblicken. Der Krimi begann schon Anfang des 16. Jahrhunderts, als ein Aachener Steinmetz in Mainz ein Stückchen Schädeldecke einer bis dato Unbekannten mopste und selbiges bei den Franziskanern in Düren deponierte. So unbekannt schien diese allerdings doch nicht zu sein, da sich kurz darauf eine Mainzer Delegation in Bewegung setzte, um ihr geliebtes Requiem zurück in die Heimat zu holen. Dies hätten sie auch fast geschafft, wäre da nicht der Dürener Stadtrat gewesen. Was einmal in Düren ist, bleibt auch dort, und so reisten die Mainzer dann unverrichteter Dinge und mit leeren Händen wieder ab. Die Sache ging vor Gericht und letztendlich musste die päpstliche Gewalt entscheiden. Der heilige Stuhl entschied sich für Düren, was der Stadt nicht nur die Annakirche bescherte. Wallfahrten waren damals schwer in Mode und so pilgerten kurze Zeit später bereits Tausende in die kleine Stadt an der Rur. Mitte des 17. Jahrhunderts gesellte sich zum Gedenktag ein Markt um die Kirche – damals noch ohne Achterbahn, Höllenblitz oder sonstigen adrenalinerhöhenden Karussellattraktionen. Aber das gastronomische Geschäft blühte damals schon und so wurde der Annamarkt im Laufe der Jahre erst auf drei und dann sogar auf acht Tage erweitert.

Heute darf satte neun Tage lang mehr oder weniger durchgefeiert werden. Die ganz harten nehmen sich in dieser Zeit Urlaub und verbringen diesen dann auch grösstenteils auf dem Festplatz. An den Insidertreffpunkten, also den besagten Bölkbuden wird gezapft, gelacht, gequasselt, geguckt, gebaggert und eben gebölkt, gleich nebenan frittiert, gebacken, gegrillt, geschmatzt, genossen und gerülpst. Und zwischendurch schlangegestanden vor den Toilettenwagen. Ganz schlaue von auswärts schlagen sich in die nahegelegenen Büsche des Rurufers, die die Einheimischentrupps ausschliesslich nur zum Kollektivkotzen nach der einminütigen Cyber-Space-Tour aufsuchen. Tja, wer die Regeln nicht kennt, tritt irgendwann nicht nur in die Scheisse.

Dienstags ist Familientag und die meisten Fahrgeschäfte senken ihre sowieso schon überhöhten Preise auf ein bezahlbares Level. Leider bevölkern dann auch Scharen von Kinderwagen die Szene. Wer nicht gerade masochistisch veranlagt ist und keine blaugrünen Hacken mag, hält sich bis zum späteren Abend besser dort fern. Oder geht gleich donnerstags zum Gruppeninvasionstag, wenn Vereins-, Arbeits- und sonstige Kameraden in Herden zusammengerottet zum Sturm auf die Kirmesbastille blasen. Und wer dann noch nicht genug hat, lässt sich am Freitag vom grossen Brilliantfeuerwerk der Schausteller bespassen. Eintritt frei - die Sicht leider meistens nicht, und derjenige, der das Feuerspiel am abendlichen Provinzhimmel brilliant und vor allem ohne Sichtstörung geniessen möchte, schmeisst sich mit Sitzpolster und Sixpack bewaffnet auf eine der nahegelegenen Parkwiesen.

Mittlerweile pilgern jährlich weit mehr als eine Million Menschen zum Annafest und seit mehr als dreissig Jahren wird die Weltmeisterschaft im Kirsch-Kern-Weitspucken hier ausgetragen. Die Stadt kassierte in diesem Jahr stolze Eins-Komma-Zwei Millionen Euro Platzmiete von den Schaustellern, die sich um die Gunst eines Standplatzes geradezu zerfleischen. Schon der kleine Stand, wo man mit magnetischen Angeln kleine gelbe Plastikenten fischen kann, die lustig im Wasserbad herumflitzen, bezahlt fünfzehn Mille, um mit dabei sein zu dürfen. Da wunderts doch niemanden, dass man für einen nicht mal zweiminütigen Cyber-Space-Höllentrip in luftiger Höhe gleich um sieben Euro ärmer wird. Durch die Preise für ein frisch gezapftes steigt eh kein Mensch mehr, weil geschickterweise die Grösse der Behältnisse unterschiedlich gewählt werden. Bei Einsdreissig für's Nullzweier beginnt der Spass, wenn auch die Krone etwas üppiger als gewohnt ausfällt. Am Stand gegenüber kostet der begehrte Saft dann schon glatte zwei Euro, dafür ist das Glas auch grösser und ausserdem bis weit über die Eichmarke gefüllt.

Nehmen wir mal die deutsche Durchschnittsfamilie, die am Sonntagnachmittag drei Stündchen über den Platz schlurft: Zwei Blagen unterschiedlichen Geschlechts, eines im Kindergartenalter, das andere hat sich mal gerade eben ins dritte Schuljahr gerettet; Papa fährt tagsüber Tiefkühllaster für Bofrost und Mutter bringt zweimal pro Woche die Nachbarwohnung auf Hochglanz. Da ist ein Fuffi viel Geld und mehr als schnell aufgebraucht, und darin ist weder Papa’s Fahrt mit der Alpina-Achterbahn noch die grosse Tüte frisch gebrannter Mandeln für die wartende Oma daheim enthalten. Einmal Geisterbahn für alle, Mutter darf mal auf’s Riesenrad und für die Kids gibts 'n Fünferabo mit dem Kinderkarussell. Anschliessend zehn Lose und den Griff in die Trostpreiskiste. Und dann noch Pommes und Zuckerwatte und Schlumpfeis. Und drei Helle für Papa, während er im Schatten diverser Bierbudensonnenschirme auf den Rest der Sippe warten muss. Den letzten Euro bekommt noch die Toilettenfrau – für Mutters schwache Blase und fürs Aufwischen von Sohnemanns plötzlich wieder zum Vorschein gekommen Pommes mit extraviel Mayo. Schliesslich will jeder an dem grossen Festplatzbraten mitmampfen.

Knapp fünfunddreissig Euro kosteten mich fünf volle Stunden Jahrmarktfreuden. Dafür gabs einen halben Meter Thüringer vom Gasgrill zu vier Euronen, drei Reibkuchen (mit Apfelmus!) für Zweifuffzig und die letzten drei Euro schluckte die Karussellfahrt mit dem überfüllten Sonderbus bis nach hause. Der 'Rest' war schon fast vollständig verdunstet oder in der Kanalisation verschwunden.

Aber schön wars. Und vielleicht nehm ich nächstes Jahr Ende Juli sicherheitshalber mal 'ne Woche Urlaub...