Was dem einen sein Leid, ist dem anderen seine Freude.

Diesmal hat's mich getroffen und ich meine dies im positiven Sinne. Doch sitze ich hier und überlege, ob ich mich überhaupt freuen darf. Wenigstens ein kleines bisschen?

Die Radiomeldungen des heutigen Morgens geben wahrlich keinen Anlass zur Freude. Mehrere Tote und viele Verletzte forderte der Orkan "Kyrill" in den letzten Stunden. Tausende, die an den Bahnhöfen festsassen, weil der Bahnverkehr zum Erliegen kam. Umgekippte LKW und beschädigte Hausdächer vervollständigen das Bild der nächtlichen Katastrophe. Und die vielen umgestürzten Bäume...

Einer von diesen hat um Haaresbreite mein Haus verfehlt. Ich hab's noch nichtmal mitbekommen, als er gefallen ist. Nichts gehört. Bei Sturm schlafe ich ausgesprochen gut, allerdings wurde mir beim Anblick der Bescherung heute morgen doch ein wenig mulmig im Magen.

So um die vierzig Jahre – so alt wie ich... Er stand fast direkt an der Grenze auf dem Nachbargrundstück. Ich weiss nicht, ob die Eigentümerin das Dilemma schon bemerkt hat. Ich glaube nicht, denn sonst hätte hier schon das Telefon geklingelt. Sie lebt allein, der einzige Sohn ist nach Frankfurt gezogen. Und sie ist weit über achtzig Jahre alt. Einerseits bewundere ich sie dafür, wie sie ihr doch sehr einsames Leben über die Runden erhält. Andererseits ist sie im Laufe der letzten Jahre sehr eigenartig geworden, um es mal milde auszudrücken.

Mit fast allen Nachbarn hat sie sich zerstritten. Meist ging es genau um diese grossen Bäume, die ihren Garten zierten und die im Laufe der Zeit noch grösser wurden. So gross, dass alle plötzlich Angst bekamen. Wenn ein Baum fällt, ist's ihm verhältnismässig egal, wohin. Nur allzu verständlich, dass die Nachbarn im Windschatten um ihre Häuser bangen.

Glücklicherweise ist alles noch mal gut gegangen und er fiel nur auf den Rasen. Aber es hätte auch anders ausgehen können.

Mir soll's recht sein. Er war so hoch, dass im Winter kaum noch Licht durch mein Fenster in's Wohnzimmer schien. Und ganz wohl war mir bei den letzten Stürmen auch nicht, wenn ich seine wankende Spitze beobachtete. Wenn ich's mal recht überlege, könnte ich mich sogar freuen. Aber so richtig tut's das nicht.

Ich werd' gleich mal zu ihr rübergehen und fragen, ob sie irgendwelche Hilfe braucht. Ich hab' heute ja frei. Unfreiwillig dank des Sturmes, denn die Bahn fuhr heute morgen noch nicht.

Und zuguterletzt hab' ich eben noch festgestellt, dass knappe zwei Meter vor dem Gefallenen ein neues Bäumchen aus der Erde wächst. Und das hat jetzt wenigstens Licht und Raum, sich zu entfalten. Aber bitte nicht mehr ganz so hoch...